“Couture auf sowjetisch” von Evgenia Hartleben-Kurakina ist der spielerisch provokante Titel dieses neuen Buches mit versteckte Fragestellung und Behauptung zugleich.
Schon beim flüchtigen Durchblättern überraschend Bekanntes: Es geht um Mode! Posen, Blicke, Stoffe, inszenierte Träume und Alltäglichkeiten sind das Kommunikationsmittel wie zu allen Zeiten und vielerorts…auch im Sowjetischen…
In ihrem Buch nimmt uns die Herausgeberin Evgenia Hartleben-Kurakina mit auf eine Reise in die Modewelt der 60/70iger Jahre in der SU, nach Leningrad. “Neuland” im Vergleich zur Menge erschienener Mode-Publikationen aus den klassischen westlichen Modeländern.
Evgenia`s Engagement verdanken wir heute eine umfangreiche Sammlung von Modefotografien der damals bekanntesten Fotografen und authentischem Bild- und Textmaterial aus dem östliche Kulturkreis.
Selbst “Topmodell” ihrer Zeit und viel beschäftigtes Mannequin in Leningrad, erzählt Evgenia Hartleben-Kurakina einfühlsam und kurzweilig von den Freuden und Problemen des Arbeitsalltages eines Berufsmannequins. Über die Fotos und im Erzählen vermittelt sich dem Betrachter die große Begeisterung für den Beruf, dem Berufung innewohnt, wie dem Beruf des Designers selbst.
Mit dem Mannequin nimmt eine Design-Idee körperliche Gestalt an. Es vermittelt aber auch gleichzeitig bestimmte ästhetische Standards einer Zeit, ein ganz bestimmtes Lebensgefühl. Eine große Verantwortung…!
In seiner ursprünglichen frz. Bedeutung wurde das “Mannequin” dem bewegten Puppenkörper gleichgesetzt und unterlag somit einer strengen Normierung des Körpers, der des Ideals der Puppe.
Leningrad, die westlichste Stadt der SU, prägte einen zurückgenommenen, klassischen Bekleidungsstil, anspruchsvoll und gut gestaltet, der der Persönlichkeit und Individualität der Mannequins Raum bot.
Diesen individuellen Spielraum nutzte Evgenia`s Mannequin-Kollektiv. Beruflich selbstbestimmt und mit hohem Verantwortungsbewusstsein prägten sie ein Leitbild auf “Augenhöhe”, in unangestrengter Natürlichkeit, selbstbewusst und solidarisch.
Als “Prototypen” für die zukünftigen TrägerInnen der Produkte der sozialistischen Modeindustrie standen sie für eine “Idealisierung in Maßen”, nie zum Selbstzweck.
In diesem Spagat zwischen ästhetischem Anspruch, Mangel und sozialistischen Produktionsvorgaben entstanden Fotos, die geprägt sind von Heiterkeit, die Vertrautheit und menschliche Nähe ausstrahlen und die einen nachhaltigen Eindruck beim Betrachter hinterlassen. Die sehr engagierte Arbeit der Mannequins findet in den Texten von Evgenia Hartleben-Kurakina und den anderen Autoren persönliche Würdigung. Und für uns eröffnen sich neue, alte Welten und wir haben die Gelegenheit vergnüglich Anteil zu nehmen an einem Geschehen fern von unseren Erfahrungsbereichen und fern unserer Zeit.